Könnte die EZB mit ihren Zinssenkungen der Fed zuvorkommen?

15. März 2024
4 min read

Die Märkte gehen davon aus, dass sowohl die Fed als auch die EZB die Zinsen im Sommer senken werden. Das könnte sich als Irrtum erweisen.

Während die Inflation in den Industrieländern weiter nachlässt, warten die Märkte sehnsüchtig auf den Beginn des Zinssenkungszyklus. Die US-amerikanische Federal Reserve (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB) werden auf ihren Sitzungen im Sommer ihre Geldpolitik überprüfen, und die Anleger erwarten, dass beide zu diesem Zeitpunkt mit Zinssenkungen beginnen werden. Auf der Grundlage der veröffentlichten Wirtschaftsdaten ist das unserer Meinung nach eine realistische Annahme.

Doch ein weiterer Faktor könnte die Reihenfolge der Zinssenkungen beeinflussen: Jede Zentralbank hat ihr eigenes spezifisches Mandat, das ihre geldpolitischen Reaktionen auf Veränderungen in der Wirtschaft bestimmt.

Die Konjunktur in den USA – insbesondere der Arbeitsmarkt – ist nach wie vor stark, was zu der Befürchtung führt, dass die Inflation in den USA nicht so schnell wie erwartet zurückgehen wird und dass die Fed ihre erste Zinssenkung vielleicht noch einige Zeit hinauszögern könnte. Würde die EZB unter diesen Umständen stillhalten?

Unterschiedliche Mandate

Während das doppelte Mandat der Fed sowohl Inflations- als auch Beschäftigungsziele umfasst, ist die EZB ausschließlich auf Preisstabilität ausgerichtet: Sie muss die Inflation nahe, aber unter 2 % halten. Wir sind daher der Ansicht, dass die EZB die Zinsen wahrscheinlich senken würde, selbst wenn die Fed den Beginn ihres Zinssenkungszyklus verschieben würde, solange die Inflation im Euroraum auf einem nachhaltigen Abwärtskurs in Richtung des Ziels bleibt.

Die Entscheidungsfindung der EZB sollte drei Grundsätzen folgen. Im Wesentlichen muss der EZB-Rat bewerten: 1) wie wirksam die Geldpolitik den Inflationsdruck eindämmt, 2) ob die zugrunde liegenden Kernkomponenten der Inflation zurückgehen und 3) wie die Inflationsaussichten auf der Grundlage der verfügbaren Daten aussehen.

Die Zentralbank hat betont, dass sie weiterhin verpflichtet ist, neue Daten auszuwerten, sobald sie verfügbar sind, und mögliche Zweitrundeneffekte bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Auf der Grundlage der uns jetzt vorliegenden Daten wäre der Weg für eine erste Zinssenkung durch die EZB unserer Meinung nach jedoch frei.

Die geldpolitische Transmission ist nach wie vor wirksam, was sich in strengeren Kreditbedingungen und einem langsameren Kreditwachstum zeigt. Die Gesamtinflation ist im Jahr 2023 deutlich gesunken und geht weiterhin schneller zurück als erwartet. Und obwohl die Kerninflation – insbesondere die Dienstleistungsinflation – etwas hartnäckiger bleibt, folgt sie trotz des starken Lohndrucks langsam einem ähnlichen Abwärtspfad.

Darüber hinaus zeigten die EZB-Prognosen und -Projektionen vom März einen weiteren Rückgang der Inflation: Die Gesamtinflation wird für 2025 mit 2,0 % und für 2026 mit 1,9 % erwartet. Im Wesentlichen liegt die Inflation mittelfristig bereits am Zielwert, und weitere Korrekturen nach unten sind im Juni mehr als wahrscheinlich.

Einige Mitglieder des EZB-Rates sind nach wie vor skeptisch, was die Lohnsteigerungen angeht. Wir glauben jedoch, dass die Daten ihre Befürchtungen zerstreuen werden: Das Lohnwachstum hat sich im vierten Quartal 2023 leicht verlangsamt und wird sich 2024 voraussichtlich weiter abschwächen (Abbildung).

Daher glauben wir, dass in den nächsten Monaten alle notwendigen makroökonomischen Bedingungen erfüllt sein werden, damit die EZB im Juni mit einer Zinssenkung beginnen kann.

Inflationssignale im Euroraum deuten auf einen Rückgang hin
Die Kreditbedingungen haben sich verschärft und die Kerninflation im Dienstleistungssektor ist rückläufig
Credit conditions have tightened with loan growth near zero, core services inflation is falling, though wages remain sticky.

Aktuelle und historische Analysen sind keine Garantie für zukünftige Ergebnisse.
Stand: 31. Dezember 2023 (Tariflöhne), 31. Januar 2024 (Kreditdaten und Momentum) und 29. Februar 2024 (Dienstleistungsinflation)
Quelle: EZB, Haver und AllianceBernstein (AB)

Auch Zeitplan und Wachstum sind wichtige Faktoren

Obwohl die Inflationszahlen für die Entscheidungsfindung der EZB ausschlaggebend sind, wird der EZB-Rat die Frage des Zeitpunkts und der Auswirkungen seiner Entscheidungen auf das Wirtschaftswachstum im Euroraum sorgfältig prüfen.

Die EZB könnte ihre eigene Entscheidung immer noch aufschieben – unserer Ansicht nach aber nur bis zur Juli-Sitzung des EZB-Rats und nur aus innenpolitischen Erwägungen heraus. Die Sprecher der EZB (von den „Falken“ bis zu den „Tauben“) haben den Juni als wahrscheinlichen Ausgangspunkt genannt. Und auf der Pressekonferenz nach der März-Sitzung erwähnte EZB-Präsidentin Christine Lagarde, dass der EZB-Rat bereits begonnen hat, über eine Lockerung der restriktiven Geldpolitik zu diskutieren. Eine weitere Verzögerung würde auf heftigen Widerstand der „Tauben“ stoßen und die angeschlagene Wirtschaft des Euroraums beeinträchtigen, sodass das Risiko besteht, dass die Inflation mittelfristig deutlich unter dem 2-Prozent-Ziel liegt.

Die Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums ist zwar kein offizielles Ziel der EZB, aber es wäre ein Fehler, wenn der EZB-Rat die Zinsen unnötig hoch hielte, was der Konjunktur schaden und die Kluft gegenüber den USA weiter vergrößern würde. Was das reale Wachstum anbelangt, so haben die USA ihren Trend vor der Pandemie deutlich übertroffen, während die Eurozone diesen Trend kaum wieder erreicht hat. Die Hauptgründe dafür sind die unterschiedlichen Muster der Binnennachfrage in beiden Regionen, wo sich der Abstand seit Beginn der Pandemie massiv vergrößert hat (Abbildung). Derselbe Trend ist bei Konsum und Investitionen zu beobachten.

Wachstumsentwicklung begünstigt frühere EZB-Senkungen
Der Euroraum hinkt den USA hinterher
The euro-area economy is lagging the US, exemplified by weaker real GDP growth and weaker private demand growth.

    
Stand: 31. Dezember 2024
Quelle: BEA, Eurostat und AllianceBernstein (AB)

Während sich die Fed vor dem Hintergrund einer starken Binnenkonjunktur Zeit nehmen kann, um über die Inflationsdaten nachzudenken, steht die EZB stärker unter Druck. Es wird erwartet, dass sich das Wachstum im Euroraum in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 beleben wird, aber schwach bleibt. Und Deutschland, die größte Volkswirtschaft, steht vor strukturellen Herausforderungen, die nur langsam gelöst werden können. In Anbetracht dieser schwierigen innenpolitischen Zwänge sind wir der Meinung, dass die Lage und die Aussichten im Euroraum eher früher als später nach Zinssenkungen schreien.

Auswirkungen für Anleger

Natürlich kann es sein, dass das Szenario „EZB zuerst“ nicht eintritt. Doch die Anleger müssen darauf vorbereitet sein.

Wenn die EZB den Zinssenkungszyklus anführt, werden die Anleger sowohl mit niedrigeren Euro-Zinsen als auch mit einem schwächeren Euro rechnen müssen. Das hat Auswirkungen auf die Positionierung in der Zinskurve und bei den Währungen.

Zinssenkungen der EZB würden zu sinkenden Renditen von Euro-Anleihen führen und damit die Kurse in die Höhe treiben. In diesem Szenario sollten Anleger davon profitieren, Euro-Anleihen zu halten, die am empfindlichsten auf Änderungen der Zinsen reagieren (längste Duration). Letztlich dürften niedrigere Zinsen auch den Konsum und die Investitionen ankurbeln, das Wachstum stimulieren und die Unternehmensemittenten unterstützen.

Wie immer ist es besser, gewappnet zu sein.

Die in diesem Dokument zum Ausdruck gebrachte Meinungen stellen keine Recherchen, Anlageberatungen oder Handelsempfehlungen dar und spiegeln nicht notwendigerweise die Ansichten aller Portfoliomanagementteams bei AB wider. Die Einschätzungen können sich im Laufe der Zeit ändern.