Was bedeutet das US-Wahlergebnis für Europa?

02. Dezember 2024
6 min read

Mögliche Änderungen der US-Politik könnten sich negativ auf Regierungen und Konjunktur in Europa auswirken, aber größtenteils positiv auf Anleihen.

Die Botschaft des designierten US-Präsidenten Trump ist klar: Die europäischen Partner müssen sich auf neue Handelszölle und höhere Verteidigungskosten einstellen. Wie sich diese Politik auswirken wird, wird sich erst im Laufe des Jahres 2025 zeigen. Wir sehen jedoch eine Reihe potenzieller Szenarien, die Risiken und Chancen für die europäischen Volkswirtschaften und Anleger mit sich bringen.

Die Auswirkungen der Zölle werden in den europäischen Ländern unterschiedlich sein

Europäische Exporte in die USA könnten mit universellen Zöllen in Höhe von 10 bis 20 % belegt werden. Die Auswirkungen der Zölle auf das BIP des Euroraums werden sich wahrscheinlich je nach Sektor und Land stark unterscheiden. Einige der größten Exportsektoren Europas – darunter Autos, Maschinen, Chemikalien, Pharmazeutika und Lebensmittel – wären stark betroffen.

Die am stärksten gefährdeten europäischen Länder exportieren große Mengen dieser Güter und weisen eine deutlich positive Handelsbilanz mit den USA auf (siehe Abbildung).

Europäische Länder mit Handelsüberschuss könnten stärker betroffen sein
Europäische Länder mit Handelsüberschuss könnten stärker betroffen sein

Aktuelle Analysen sind keine Garantie für zukünftige Ergebnisse.
Stand: 31. Januar 2023
Quelle: Haver Analytics und AllianceBernstein (AB)

Mehrere Quellen schätzen, dass der Schaden für das BIP des Euroraums zwischen etwa -0,5 % und -1,0 % liegen könnte (siehe Abbildung), je nachdem, ob Trumps Maßnahmen vollständig umgesetzt werden. Deutschland scheint am anfälligsten zu sein, da der Großteil der Exporte in die USA auf Waren entfällt (4,1 % des BIP 2023), während das eher dienstleistungsorientierte Großbritannien weniger betroffen sein könnte.

Europas führende Produktionsmacht wäre am stärksten von Zöllen betroffen
Europas führende Produktionsmacht wäre am stärksten von Zöllen betroffen

Aktuelle Analysen sind keine Garantie für zukünftige Ergebnisse.
Stand: 6. November 2024
Quelle: Goldman Sachs

Sekundäreffekte der drohenden 60-prozentigen Zölle auf China könnten auch Europa schaden. Europäische Unternehmen könnten sowohl mit einer weiteren Verringerung der Nachfrage durch eine geschwächte chinesische Wirtschaft als auch mit zusätzlicher Konkurrenz durch chinesische Waren, die vom US-Markt umgeleitet werden, konfrontiert werden.

Die Unsicherheit über die Auswirkungen beeinträchtigt bereits die Geschäftstätigkeit und Investitionen in Europa: Der Trade Policy Uncertainty Index zeigt, dass die handelspolitische Unsicherheit jetzt genauso hoch ist wie in Trumps erster Präsidentschaft und das Wirtschaftswachstum ernsthaft beeinträchtigen könnte. Seit Ende September sind die Gewinnschätzungen und Aktienkurse einiger führender europäischer Automobilhersteller bereits deutlich gesunken, und ihre Anleihespreads haben sich ausgeweitet.

Auch die Verteidigungskosten werden variieren

Trump hat immer wieder betont, dass die NATO-Mitglieder ihrer Verpflichtung nachkommen müssen, mindestens 2 % des BIP für Verteidigung auszugeben. Zeitweise hat er vorgeschlagen, diese Verpflichtung zu erhöhen, möglicherweise auf 4 %. Die zusätzlichen Kosten würden die Länder mit den niedrigsten Ausgaben am stärksten treffen (Abbildung) und sich langfristig negativ auf ihre Verschuldung und Haushaltsdefizite auswirken.

Westeuropäische Länder stehen vor den höchsten Steigerungen der Verteidigungsausgaben
Westeuropäische Länder stehen vor den höchsten Steigerungen der Verteidigungsausgaben

Aktuelle und historische Analysen sind keine Garantie für zukünftige Ergebnisse.
Stand: 12. Juni 2024
Quelle: NATO und AB

Hinzu kommt, dass die USA den größten Teil der militärischen Ausgaben im Zusammenhang mit der Ukraine tragen: Wenn die USA diese Unterstützung zurückziehen würden, könnte die Militärhilfe für die Ukraine laut dem Institut für Weltwirtschaft Kiel erheblich sinken. Es ist unwahrscheinlich, dass die europäischen Länder diese Lücke schließen könnten, da sie bereits andere bedeutende finanzielle und humanitäre Hilfszusagen an die Ukraine gemacht haben (siehe Abbildung), hohe Haushaltsdefizite aufweisen und in einigen Fällen instabile Regierungen haben.

Die USA haben die meisten Mittel für die Ukraine bereitgestellt
Die USA haben die meisten Mittel für die Ukraine bereitgestellt

Aktuelle und historische Analysen sind keine Garantie für zukünftige Ergebnisse.
Stand: 31. August 2024
Quelle: IfW Kiel

Schwächeres Wachstum bedeutet niedrigere Zinsen

Auch wenn zum jetzigen Zeitpunkt alles möglich ist, könnte die Chance bestehen, das Schlimmste abzuwenden. Zollvorhaben werden möglicherweise nicht vollständig umgesetzt, da die betroffenen Länder die Auswirkungen durch bilaterale Verhandlungen und Zugeständnisse bei nicht handelsbezogenen Fragen abmildern könnten. Außerdem haben Unternehmen gelernt, das Zollrisiko (seit der ersten Präsidentschaft von Trump) und die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten (während der COVID-Pandemie) besser zu handhaben. 

Dennoch haben die europäischen Volkswirtschaften bereits jetzt Schwierigkeiten, nach der Pandemie wieder nennenswertes Wachstum zu erreichen, und ein externer Schock könnte die Region in eine Rezession stürzen. Der Markt geht davon aus, dass sich der Leitzins der Europäischen Zentralbank (EZB) in den nächsten Jahren bei 2,0 % bis 2,25 % einpendeln wird.

Wir halten dieses Niveau für zu hoch und gehen davon aus, dass die Zinsen weiter fallen werden, da Europa mit den gleichen strukturellen Problemen wie vor der Pandemie konfrontiert ist. Neue Herausforderungen durch Trumps Politik könnten sogar noch mehr Zinssenkungen durch die EZB bedeuten. Zudem könnte Trumps Politik zu einem höheren nominalen Wachstum und einer höheren Inflation in den USA führen und zu weniger Zinssenkungen durch die US-Notenbank.

Anleihemärkte könnten starken Rückenwind erhalten

Die Aussicht auf deutlich niedrigere Zinsen in Europa und ein stärkeres Wachstum in den USA wird sich in den nächsten zwei Jahren wahrscheinlich sehr positiv auf die Märkte für Euro-Anleihen auswirken. Wir erwarten niedrigere Renditen am vorderen Ende der Zinskurve und nur geringfügig höhere Renditen am sehr langen Ende (30 Jahre) aufgrund der Verschlechterung der Haushaltslage.

Emittenten mit Investment-Grade-Rating und den stärksten Finanzkennzahlen werden dem Druck durch Zölle am besten standhalten können, und ihre Anleihen dürften unserer Meinung nach am meisten von sinkenden Zinsen profitieren. Hochzinsemittenten reagieren empfindlicher auf Veränderungen der Wirtschaftsaussichten und könnten stärker von einer Wachstumsverlangsamung betroffen sein. Dennoch starten die europäischen Hochzinsmärkte aus einer Position der Stärke, mit überwiegend robusten Fundamentaldaten und einer starken Nachfrage im Verhältnis zum Angebot. Insbesondere sind rund 65 % des Hochzinsmarktes mit BB bewertet, und Emittenten in dieser Gruppe benötigen nicht zwingend ein starkes Wachstum, um ihre Schulden zu bedienen. Wir sind jedoch der Meinung, dass die Emittenten mit geringerer Bonität und höherer Verschuldung, die mit CCC und niedriger bewertet werden, wahrscheinlich Wachstum benötigen, um ihre Kapitalstrukturen aufrechtzuerhalten, und anfällig für eine Verlangsamung sind.

Falls die Zinsen weiter sinken, könnten europäische Anleger, die Anleihen meiden und in Bargeld bleiben, erhebliche Opportunitätskosten erleiden.

Aktives Management kann eine wichtige Rolle spielen

Obwohl die Auswirkungen der neuen US-Politik auf die europäischen Volkswirtschaften und Unternehmen insgesamt negativ sein könnten, rechnen wir mit einer breiten Streuung der Ergebnisse über Emittenten, Sektoren und Länder hinweg. Viele Emittenten von auf Euro lautenden Schuldtiteln sind beispielsweise multinationale Unternehmen, die weniger vom europäischen Wachstumszyklus abhängig sind. Auf Euro lautende Schuldtitel, die von US-Unternehmen ausgegeben werden, können sowohl von fallenden Zinsen in Euro als auch von einem stärkeren Wirtschaftswachstum in den USA profitieren. Und die Risiken der Emittenten werden sich im Laufe der Zeit wahrscheinlich ändern, wenn sich die Politik weiterentwickelt. Daher können erfahrene aktive Manager Chancen finden – insbesondere diejenigen, die dynamische risikobewusste Strategien verfolgen.

Das europäische Projekt könnte an einen Scheideweg gelangen

Trump leugnet den vom Menschen verursachten Klimawandel ab und setzt vor allem auf fossile Energieträger, um das Wirtschaftswachstum in den USA anzukurbeln. Er hat sein Team mit einer umfassenden Deregulierungs- und Kostensenkunginitiative beauftragt und beabsichtigt, die 2025 auslaufenden Steuersenkungen zu verlängern. Kurzfristig glauben wir, dass seine Politik den Wettbewerbsvorteil von US-Unternehmen stärken und die Kluft zwischen den Wirtschaftswachstumsraten in den USA und Europa vergrößern könnte.

Da die europäischen Regierungen bereits mit einem Gegenwind der Wähler aufgrund hoher Energiepreise konfrontiert sind, wird der Druck auf die Europäische Union (EU) wahrscheinlich zunehmen, das Tempo ihres ökologischen Wandels neu zu bewerten. Politische Veränderungen in den USA könnten auch die Forderungen in der EU nach einem ehrgeizigeren Programm für den Euroraum zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und des Zusammenhalts, einschließlich weiterer EU-Kreditbefugnisse, verstärken.

Anleger müssen diese Ereignisse und die Entwicklung der Wertpapierkurse, die die tatsächlichen Auswirkungen von Veränderungen über- oder unterbewerten könnten, im Auge behalten. Instrumente, die finanziell relevante ESG-Kennzahlen objektiv analysieren und beständig bewerten und quantitative und fundamentale Researchergebnisse über eine große Anzahl von Anleiheemissionen hinweg systematisch nutzen, werden von entscheidender Bedeutung sein. Nur durch die Entwicklung dieser Fähigkeiten können Anleger die Auswirkungen potenziell weitreichender Veränderungen vollständig einschätzen und so Risiken mindern und Chancen während der Amtszeit von Trump und darüber hinaus nutzen.

Die in diesem Dokument zum Ausdruck gebrachte Meinungen stellen keine Recherchen, Anlageberatungen oder Handelsempfehlungen dar und spiegeln nicht notwendigerweise die Ansichten aller Portfoliomanagementteams bei AB wider. Die Einschätzungen können sich im Laufe der Zeit ändern.