Im Euroraum hingegen stagniert das Wachstum der Reallöhne oder ist sogar leicht rückläufig, obwohl die Nominallöhne mit einer gesunden Rate von 4 % wachsen – das stärkste Tempo seit der globalen Finanzkrise. Infolgedessen untergraben die steigenden Preise die Kaufkraft der Verbraucher. Dabei sind die in den letzten Wochen um 60 % gestiegenen Erdgaspreise und die zu erwartenden Preissteigerungen bei Rohstoffen und Lebensmitteln noch gar nicht berücksichtigt.
Wenn die Inflation in Europa weiter ansteigt, droht der Region unserer Meinung nach in diesem Jahr ein negativer Nachfrageschock. Die Europäische Zentralbank begab sich daher auf gefährliches Terrain, als sie kürzlich signalisierte, dass sie die Zinsen anheben könnte. Im Jahr 2011 hob die Europäische Zentralbank entgegen den üblichen Gepflogenheiten die Zinsen an, als die Realeinkommen negativ waren, erkannte aber schnell ihren Fehler und vollzog eine Kurskorrektur.
Die Dynamik in den USA ist anders. Zwar ist die Inflation in den USA höher als in Europa, aber die Einkommen sind auch robuster. Der Nominallohn wächst jährlich um etwa 10 %, und der Reallohn wächst um 2,7 %, was dem langfristigen Durchschnitt entspricht. Das trifft vielleicht nicht auf jeden Haushalt zu, aber insgesamt hält die Wirtschaft mit der Inflation zumindest Schritt. Aus Sicht der Fed bedeutet das, dass die US-Wirtschaft Zinserhöhungen verkraften kann. Da es unwahrscheinlich ist, dass eine höhere Inflation zu einer dramatischen Konjunkturabschwächung führt, sollte die Fed unserer Meinung nach nicht aufgrund des von Russland und der Ukraine ausgehenden Drucks vor einer Zinserhöhung zurückschrecken.
Dennoch ist Vorsicht geboten. Mögliche unvorhersehbare Ergebnisse könnten die Verbrauchererwartungen beeinträchtigen oder die Unternehmensinvestitionen schwächen. Einige Banken könnten versteckte Engagements in der Region haben. In Anbetracht der durch die russische Invasion entstandenen Unsicherheiten dürfte die US-Notenbank vorsichtig sein und ihren Zinserhöhungszyklus mit einer Anhebung um 25 Basispunkte noch in diesem Monat beginnen.
In den Schwellenländern befinden sich einige Zentralbanken in einer besonders schwierigen Lage. In Lateinamerika und Osteuropa hat sich der Inflationsdruck verschärft, und in der Regel haben die Notenbanken die Zinsen bereits erhöht.
Anleger mögen keine Ungewissheit und neigen dazu, eine enge Bandbreite von Ergebnissen zu bevorzugen. Diesen Luxus können wir uns heute nicht leisten. Inmitten der düsteren Kriegsstimmung sollte man jedoch bedenken, dass nicht alle möglichen makroökonomischen Ergebnisse in einer Rezession enden. Wenn der Konflikt beispielsweise in naher Zukunft beendet wird, könnten die Rohstoffpreise sinken, bevor die Zerstörung der Nachfrage einsetzt. Geldpolitische Entscheidungsträger auf der ganzen Welt werden angesichts der unbeständigen Situation einen heiklen Balanceakt vollziehen müssen, während sie sich auf einen schnell fahrenden Zug setzen.