Probleme mit Ratings Dritter
Heute sind ESG-Ratings von Drittanbietern ein statischer Blick in den Rückspiegel: Sie spiegeln weder das Verbesserungspotenzial eines Unternehmens noch seine Anfälligkeit für mögliche künftige Risiken wider. Diese Bewertungen stützen sich zum Teil auf nichtfinanzielle Informationen, die von den Unternehmen selbst angegeben werden, sodass die Bewertungen auf dem basieren, was ein Unternehmen sagt, und nicht auf dem, was es getan hat. Außerdem stützen sie sich in hohem Maße auf automatisierte Tools, die Daten aus Websites extrahieren („Web Scraping“). Diese Informationen sind unter Umständen nicht besonders zuverlässig oder wurden sogar von den Unternehmen zusammen mit Schlüsselwörtern, die von Suchrobotern leicht erkannt werden, eingeschleust.
Hinzu kommt, dass große Unternehmen, die es sich leisten können, alle für ein Rating erforderlichen Daten zu sammeln und zu übersetzen, in der Regel eine höhere Punktzahl erhalten. Und in Schwellenländern, in denen viele Unternehmen in privater Hand sind, kann die Datentransparenz wesentlich geringer sein als bei börsennotierten Unternehmen, und die Abdeckung durch ESG-Datenanbieter ist oft nicht gegeben.
Entscheidend ist, dass ESG-Ratings von Unternehmen nicht unbedingt die Auswirkungen eines Unternehmens auf unseren Planeten und die Gesellschaft messen. Vielmehr bewerten einige einfach die Art und Weise, wie ein Unternehmen mit aktuellen ESG-Risiken und -Chancen umgeht, im Hinblick auf die Auswirkungen auf sein Endergebnis.
Die Abdeckung der Ratingdienste variiert je nach Anlageklasse, Kriterien, Strenge und Ergebnis. Es gibt keine aktuellen Branchen- oder Regulierungsstandards für Algorithmen, Kennzahlen, Datenquellen oder Ergebnisse. Jeder Anbieter hat seine eigene Blackbox, die riesige Datenmengen in ein einziges Rating pro Unternehmen umwandelt. Das Ergebnis? ESG-Ratings können von Anbieter zu Anbieter stark variieren: Während die positive Korrelation bei Bonitätsratings mit 0,9 hoch ist, liegt die Korrelation bei ESG-Ratings unter 0,5.
Eine behördliche Aufsicht für ESG-Daten und -Ratings könnte sich abzeichnen, zunächst in Europa. Eurosif untersucht die Rolle von ESG-Ratings und Datenanbietern im Hinblick auf künftige Vorschriften – und erkennt damit die derzeitigen Unzulänglichkeiten an. Die europäischen Behörden sind besorgt, weil sich viele kleinere Anleger und passive Portfoliomanager auf diese Ratings verlassen.
ESG-Bewertungen müssen zukunftsorientiert sein
Die Mängel von rückwärtsgewandten ESG-Ratings sind in letzter Zeit deutlicher geworden. Die COVID-19-Pandemie warf die dringende Frage auf, ob die Unternehmen auf Unvorhergesehenes vorbereitet sind, ob sie in der Lage sind, sich anzupassen, um nachhaltiges Wachstum zu gewährleisten, und ob sie sich für ihre Mitarbeiter und Kunden einsetzen.
Nehmen wir den Klimawandel. Die Regierungen haben sich zu einer CO2-ärmeren Zukunft verpflichtet, was weitreichende Auswirkungen haben wird: Es ist von entscheidender Bedeutung zu verstehen, wie sich künftige CO2-Steuern oder CO2-ärmere Alternativen auf jede Portfolioinvestition auswirken werden.
Die ESG-Bewertung erfordert naturgemäß einen vorausschauenden Ansatz, den statische Kennzahlen möglicherweise nicht bieten. Was heute als akzeptierte Praxis gilt, kann morgen schon als inakzeptabel angesehen werden, da sich die Regeln, Vorschriften und die öffentliche Meinung ständig weiterentwickeln.
ESG-Integration mitentscheidend für Erträge
In einer sich schnell verändernden Welt erfordert die Erfassung von ESG-Vorteilen und die Identifizierung von Risiken einen integrierten Ansatz. Unserer Ansicht nach sind eigenes Research und Branchenkenntnisse die Quelle für Alpha in Anlageportfolios. Ebenso sind wir der Meinung, dass ESG-Einschätzungen nicht an Drittanbieter ausgelagert werden sollten, da auch diese Bewertungen ein wichtiger Faktor für risikobereinigte Erträge sind.
Bei vielen ESG-Themen handelt es sich um aktuelle oder zukünftige Risiken, die in der Vergangenheit vom Markt nicht bewertet wurden. Doch hinter jedem öffentlichkeitswirksamen Unternehmensskandal steht ein katastrophales Versagen beim Verständnis und Management von E-, S- oder G-Risiken. Durch die vollständige Integration von ESG-Themen in einen Anlageprozess können Anleger Risiken erkennen, bevor sie eine Investition tätigen – und während sie diese Position halten. Dieser Ansatz hilft Anlegern auch, Ertragsquellen bei den führenden ESG-Unternehmen zu identifizieren, wie etwa Unternehmen, die Lösungen für Umweltprobleme anbieten.
Engagement ist der Schlüssel zu ESG-Bewertungen
ESG-Daten und -Ratings von Drittanbietern sind kein Ersatz für unabhängige Recherchen vor Ort, um ein vollständiges Bild des Unternehmensverhaltens zu entwickeln. Dazu ist es erforderlich, mit der Geschäftsleitung in Kontakt zu treten, Einrichtungen zu besuchen und das Umfeld, in dem ein Unternehmen tätig ist, zu verstehen.
Außerdem sind eine ausreichende Anzahl von Analysten und die Fähigkeit erforderlich, umfassende Überprüfungen vorzunehmen und Daten zu validieren. Grobe Annahmen über Branchen, Länder und Risiken können zu suboptimalen Schlussfolgerungen, falsch verstandenen Risiken oder verpassten Chancen führen.
Unternehmen, die im Bereich ESG hinterherhinken, sich aber um Verbesserungen bemühen, können profitable Chancen bieten – auch wenn die oberflächlichen Ratings unterdurchschnittlich sind. Wir haben erlebt, dass Unternehmen mit schlechten Umweltbewertungen gezielte Anstrengungen unternommen haben, um auf umweltfreundlichere Ausrüstung umzustellen. Solche Verbesserungen führen oft zu besseren Ratings, die den Aktienkurs in die Höhe treiben und Anlegern, die den Trend frühzeitig erkennen, Erträge bescheren. Die Investition in und die Zusammenarbeit mit Unternehmen, die sich verbessern, kann auch zu einigen der größten ESG-Vorteile führen, zum Beispiel bei der Reduzierung des CO2-Ausstoßes.